Wenn der Kinderwunsch zum Problem für die Beziehung wird

…und eine Trauer die andere vom Thron stößt

Ein hübsches Zimmer mit eigenem Bad und Balkon, mitten im grünen Thüringen, umgeben von Weiden und einem überraschend großen Bachlauf, sollte für die nächsten fünf  Wochen unser Zu Hause sein. 

Ich hatte mich in den vergangenen Monaten – und besonders den letzten Wochen – so gefangen in meinem eigenen Leben und so todunglücklich in meiner Beziehung gefühlt, dass ich es kaum hatte erwarten können, endlich in der Klinik anzukommen. 
Ich meine, so hätte ich es wahrscheinlich empfunden, wenn ich noch zu irgendeiner anderen Emotion als Traurigkeit in der Lage gewesen wäre. 

Aron war mit der ganzen Situation völlig überfordert gewesen. Er war zu einem Zeitpunkt mit dem Kinderwunsch konfrontiert worden, zu dem er von sich aus noch niemals daran gedacht hätte Kinder zu bekommen. 
Wir waren ja beide, mehr oder weniger, in diese Kinderwunschsituation genötigt worden, nur dass ich sie sehr schnell hatte annehmen und mich damit identifizieren können, während Aron bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit ganzem Herzen dabei war…

Das machte sich insofern bemerkbar, als dass ich mich pausenlos von ihm allein gelassen fühlte und ihm das immer wieder zum Vorwurf machte – in der Hoffnung, dass es doch irgendwann endlich bei ihm ankäme und ihn wachrütteln würde.

Was aber tatsächlich passierte war das genaue Gegenteil. 

Er hatte sich in die Freundschaft mit einer vierundzwanzig Jährigen geflüchtet, die in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von mir war und die unser Auseinanderdriften nicht nur befeuerte, sondern auch stark beschleunigte. 
Bei ihr – im Gegensatz zu mir – fühlte er sich verstanden und bemerkte überhaupt nicht, wie weit er sie in unsere Beziehung hineingelassen hatte – und vor allen Dingen wie sehr sie deswegen inzwischen auf Messers Schneide stand…

Als Aron uns in der Klinik abgesetzt hatte und ich nach einem ziemlich zähen Aufnahmeverfahren endlich mit Ralfi in unserem Zimmer ankommen und auspacken konnte, spürte ich sehr schnell etwas, das ich eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr empfunden hatte: Freiheit. Und Erleichterung. Ich konnte atmen. So fern ab von allem was mir in den letzten Monaten solchen Kummer bereitet hatte, konnte ich mich endlich wieder selbst fühlen. 

Ich hatte noch keine Ahnung, dass ich nur 47 Tage später lernen sollte, was Trauer WIRKLICH bedeutet. 

Die Situation mit dieser Freundschaft, die Aron da pflegte eskalierte völlig, nur einen Tag nachdem ich in der Klinik angekommen war und ich stellte Aron – entgegen meiner Natur – gnadenlos vor die Wahl. 

Ich verlangte von ihm den Kontakt zu ihr sofort abzubrechen, worüber er, selbstverständlich, nicht glücklich war, es aber, nach einem letzten Gespräch mit ihr, tatsächlich tat. 

Für Aron war das der ultimative Liebesbeweis gewesen und er konnte es überhaupt nicht verstehen, dass ich danach noch Zeit brauchte…

Aber endlich führten wir wieder normale Gespräche. Wir konnten wieder miteinander reden ohne zu streiten und ich hatte das Gefühl er hörte mir endlich wieder zu. Nicht nur meine Worte. Ich hatte das Gefühl auch endlich wieder von ihm wahrgenommen zu werden…

Jetzt konnte ich mich vollständig auf die Reha konzentrieren und ich wurde von den Therapeuten auch wirklich ernst genommen, was mir unglaublich guttat. 
Ich erzählte Ihnen alles…wie ich das Gefühl hatte, als Frau völlig versagt zu haben, welche Rolle Ralfi für mich spielte, dass ich mich fühlte wie B-Ware und welche Auswirkungen der Kinderwunsch auf unsere Beziehung gehabt hatte. 

Ich weiß nicht genau, welche Erwartungen ich an die Therapiesitzungen gehabt hatte, aber ich war doch ziemlich überrascht, dass ich nicht in meinem Glauben, dass es doch noch irgendwann klappen würde, bestärkt wurde, sondern lernen sollte meine Unfruchtbarkeit anzunehmen. 

Meine Chancen jemals schwanger zu werden lägen bei weniger als zwei Prozent, hatten die Ärzte in der Klinik gesagt, und ich bin mehr so der Typ:  Wenn die Antwort "nein" ist, hast du einfach nur die falsche Person gefragt.  

Trotz der Probleme, die Aron und ich gehabt hatten, bevor ich hier her gekommen war, klammerte ich mich nach wie vor an diese verschwindend geringe Chance wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Ich glaube tief im Inneren spürte ich, dass Aron und ich als Paar stärker waren als ich es jetzt wahrnahm. 

Vermutlich konnte ich deswegen auch nicht loslassen. Ich wusste instinktiv, wir würden zusammen bleiben und ich wollte um jeden Preis, dass wir eine Familie wurden. 

„Sie müssen diese Diagnose annehmen, Frau Sauber“, säuselte der Therapeut in einer sehr monotonen und regelrecht narkotisch wirkenden Tonlage. 

„Aha“, würgte ich hervor. „Warum?“ 

„Na, damit Sie damit abschließen und Ihr Leben weiter leben können“, war die etwas hilflose Erklärung. 

„Wie geht das denn? Das Annehmen…? Mir wird hier immer nur gesagt, dass ich es machen muss, aber keiner erklärt mir wie das geht.“

Bis heute habe ich auf diese Frage keine Antwort bekommen. 

Ich muss wirklich wirklich wirklich sagen, dass die Reha super war. Es war, rückblickend betrachtet, das Beste, was ich hätte machen können, aber was diese eine Frage anging, hatte ich den Eindruck, dass die Therapeuten überfordert waren. 
Aber mal ehrlich…was soll man auf diese Frage auch antworten? Ich glaube man kann zwar jemandem sagen, dass er sein Schicksal annehmen muss, aber das ist wohl wie mit einem Drogenentzug. Es muss von einem selber kommen.  Aus eigenem Antrieb. Und ich war einfach noch nicht soweit meinen Kinderwunsch loszulassen. 

Die Reha war für fünf  Wochen genehmigt worden, aber schon nach zwei Wochen sprach mich mein Therapeut in einer der Einzelstunden darauf an, ob ich die Reha nicht verlängern wollte…er würde es nicht so einschätzen, dass ich in drei Wochen schon wieder soweit wäre und ich nahm diesen Vorschlag dankbar an. 

Er beantragte drei weitere Wochen für mich, die auch problemlos genehmigt wurden. Für mich bedeutete diese Entscheidung, dass ich Weihnachten in der Klinik verbringen würde. Eine grauenhafte Vorstellung für mich, denn Weihnachten war wirklich meine absolute Lieblingszeit im Jahr, und dass ich das Weihnachtsfest nicht mit Aron und meiner Familie verbringen sollte fand ich doch sehr befremdlich. 

Aber es sollte alles anders kommen. 

Inzwischen war ich seit sechs Wochen in der Reha und ich fühlte mich so viel besser, dass ich anfing Heimweh zu bekommen und mich wieder richtig auf Aron und meine Familie zu Hause freute. 

Es war ein Samstag Vormittag und ich rief zu Hause an um bei meinen Eltern nach dem rechten zu hören. Wir hatten jeden Tag telefoniert seit ich in Thüringen war. 

„Hallo Mama, wie geht’s Euch heute?“ flötete ich gutgelaunt ins Telefon und ihre trübe Reaktion war: „Ich glaube, der Papa hat Corona, Schatz“.

Und mit diesem Satz läutete sie die schlimmste Zeit unseres Lebens ein. Wir alle hatten noch keine Ahnung, dass sich in genau zwei Wochen unser aller Leben für immer ändern würde. 

Sie behielt recht. Er hatte Corona und für vier oder fünf Tage ging es ihm so schlecht, dass ich aufrichtig Angst um sein Leben hatte. Mein Papa war, seit ich denken kann, ein kerngesunder Mann, aber dieses Virus hat ihn so sehr geschwächt, dass er selbst zum Sprechen keine Kraft mehr hatte. 

Mein Bruder fuhr die beiden montags zum Arzt um einen PCR Test machen zu lassen. Interessanterweise hatte meine Mama überhaupt keine Symptome und war deswegen gut in der Lage sich um meinen Papa zu kümmern. 
Ich hab sie angefleht, für die Zeit, in der Papa ansteckend war, bei Aron zu bleiben, aber sie wollte ihm partout nicht von der Seite weichen. 

Am Dienstagabend saß ich im Speisesaal am Esstisch als mein Handy klingelte und unser Hausarzt am anderen Ende war. 

„Frau Sauber, ich erreiche Ihre Eltern nicht. Haben die eine neue Telefonnummer?“ 
„Stimmt. Ja, die sind umgezogen. Haben Sie die PCR Ergebnisse?“ 

Ich war darauf vorbereitet, dass Papas Test positiv war aber er sagte: „Das von Ihrer Mama hab ich, ja. Es ist positiv. Ich muss sie unbedingt sprechen…“

Am nächsten Tag setzten bei meiner Mama die Symptome ein und eine Woche später rief mein Papa mich an, als ich gerade mit Ralfi auf dem Weg zum Freilaufgehege war.  Papa war inzwischen wieder fit, aber nach wie vor in Quarantäne. 

„Hi Juli. Ich wollte Dir nur Bescheid sagen, dass ich die Mama heute morgen zum Arzt gefahren habe. Sie liegt jetzt im Krankenhaus auf der Intensivstation.“

Ich spürte wie mein Herz einen Schlag aussetzte. Ich wusste, dass es ihr schlecht ging. Trotzdem traf mich diese Information wie ein Schlag. 

Es war der 22. Dezember. „Dann komm ich jetzt heim. Ich habe hier schon Bescheid gesagt, dass die Mama krank ist und sie haben gesagt, ich kann sofort nach Hause, wenn es sein muss“. Innerlich packte ich bereits meine Koffer, aber Papa versuchte mich zu beruhigen. 
Er sagte mir, dass ich bleiben soll, dass sie in guten Händen wäre und jetzt dieses neue Corona Medikament bekäme, das letzte Woche aus Amerika gekommen und neu zugelassen worden war - zumal ich sie auf der Corona Intensivstation ohnehin nicht besuchen durfte.

Aber am nächsten Abend rief er mich an und sagte mir, dass das Krankenhaus gerade angerufen hatte. Mamas Zustand verschlechterte sich und als ich diesmal sagte: „Ich komme jetzt nach Hause, Papa. Ich ruf den Aron an, der soll sofort losfahren!“, da sagte er nur: „OK.“

Ich rief Aron an und sagte ihm, dass er sich sofort auf den Weg machen sollte. Ich war gerade mit Ralfi draußen und stürmte zurück in die Klinik so schnell ich konnte. 
Dort angekommen setzte ich Ralfi oben ab und eilte ins Schwesternzimmer. 

Die Verwaltung war wohl schon auf meine frühzeitige Abreise vorbereitet. Es ging alles sehr schnell und als ich wieder zurück im Zimmer war klingelte mein Telefon. 

Aron konnte in dieser Nacht nicht mehr kommen. Es war auf der gesamten Stecke Blitzeis angekündigt und mein Papa wollte nicht, dass wir auf dem Weg in Gefahr gerieten. 

Also fuhr Aron am nächsten Morgen los und holte mich dann am Mittag ab. Heiligabend. 
Mein Bruder hatte Mama vormittags besuchen dürfen und mich anschließend angerufen. Er hatte bitterlich geweint und ich bekam es richtig mit der Angst zu tun. 

Aron hatte mich ohne Umwege sofort ins Krankenhaus gebracht. Papa durfte nicht zu ihr, weil er immer noch unter Quarantäne stand. Deswegen bekam er nur telefonische Informationen. 
Aber ich konnte direkt mit dem Arzt sprechen. Er erklärte mir, dass beide Lungenflügel ihre Tätigkeit eingestellt hatten und Mama sich weigerte intubiert zu werden. Sie hatte zu große Angst aus dem künstlichen Koma nicht mehr aufzuwachen, aber der Arzt sagte mir, wenn sie sich weiter weigern sollte, dann könnten sie ihr nur noch Morphium geben, damit sie nicht spürt, dass sie erstickt…

Eine Stunde lang durfte ich zu ihr. Sie war bei vollem Bewusstsein, aber sie durfte nicht mehr sprechen. Die Ärzte sagten, dass dann ihre Sauerstoffsättigung zu stark sinken würde und es zu lang dauerte sie wieder zu stabilisieren. 

Ich wollte ihr so gerne schöne Dinge erzählen, und dass es mir viel besser ging…dass sie sich keine Sorgen mehr um mich machen musste. 
Aber ich konnte es nicht. Ich konnte nicht aufhören zu weinen und es tut mir so unendlich leid, dass das das letzte Mal als sie mein Gesicht sah, Tränen an meinen Wangen runter liefen. 

Ich sagte ihr, dass ich sie am nächsten Tag nochmal besuchen würde und flehte sie an, mitzumachen und alles zu tun was nötig war, damit sie gesund wird. 

Aber der Arzt erlaubte es nicht. Mein Bruder und ich hatten nur zu ihr gedurft, weil Heiligabend war und morgen würde es diese Ausnahme nicht mehr geben. 

Als mein Papa am nächsten Nachmittag anrief sagte er mir, dass ihr Zustand unverändert sei und wir waren darüber erleichtert, weil sie wenigstens stark genug war, dass es nicht schlimmer wurde. 

Wir lebten von Stunde zu Stunde und hofften immer, dass DER Anruf ausblieb. 

Am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages kam eine Nachricht von ihrem Handy in unserem Familienchat an. 

„Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses.“. Ich wusste, welche Bedeutung dieser Satz für meine Mama hatte und sprang aus dem Bett auf. 
Ich hastete Richtung Wohnzimmer um meinen Papa anzurufen. Er ging sofort ans Telefon und ich blieb wie angewurzelt stehen.

„Hallo?“ hörte ich seine dünne, zitternde Stimme am anderen Ende der Leitung. 

„Papa. Was ist los???“ 

„Sie ist gestorben“ brachte er mit letzter Kraft heraus bevor seine Stimme von Tränen erstickt wurde und wegbrach. 

Schreiend brach ich im Flur zusammen und der Kinderwunsch wurde von einer Sekunde auf die andere so unwichtig. 

Aron war sofort an meiner Seite. 

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