
Die Zeit war stehen geblieben. Mamas Tod hatte alles verändert und obwohl die Welt sich für alle anderen weiterdrehte, wie sie es immer tut, wenn jemand stirbt (denn die Welt interessiert es nicht, ob es jemand besonderes war, der gestorben ist), hatte sie für mich nicht einfach nur angehalten. Sie war in tausende kleine Teile zerbrochen – und ich auch. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mein Kinderwunsch völlig unwichtig war und ich kam mir so dumm vor, dass ich seinetwegen solche Depressionen gehabt hatte. Natürlich ist dieser Gedanke aus psychologischer Sicht vermutlich falsch, denn natürlich haben kinderwunschbedingte Depressionen ihre Daseinsberechtigung. Sie kamen mir nur neben dem Verlust meiner Mama so klein und unbedeutend vor… Und damit lag unser Kinderwunsch bis auf Weiteres vorerst auf Eis. Ich war von einem emotionalen Extrem ins andere geschleudert worden – nur, dass diese neue Trauer alles bisher Dagewesene trivial wirken ließ. Ans Kinderkriegen war gerade nicht mal zu denken. Allein die Vorstellung jetzt Sex zu haben fand ich derart grotesk und deplatziert, dass ich mich nicht, auch nur für eine Sekunde, dazu bringen konnte auch nur darüber nachzudenken – geschweige denn es zu tun. Aron zeigte unglaubliches Verständnis. Aber gleichzeitig hatte ich auch das Gefühl, dass er mit meiner Trauer etwas überfordert war. Ich glaube, er wollte mir gerne helfen, wusste aber nicht wirklich wie…und dennoch ist es ihm irgendwie gelungen mir doch Halt zu geben und für mich da zu sein. Auf traurige Weise hat uns diese Zeit nochmal enger zusammengeschweißt – oder überhaupt erst wieder. Und als Ende Februar der Krieg in der Ukraine ausbrach wussten Aron und ich sehr schnell, dass wir helfen wollten. Wir beschlossen ein oder zwei Flüchtlinge bei uns zu Hause aufzunehmen und nur zehn Tage später waren sie schon da – nur dass aus ein oder zwei Flüchtlingen jetzt drei geworden waren. Eine Oma, eine Mama und ein siebenjähriger Junge zwangen mich schlagartig nochmal zurück ins Leben zu finden. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr zu trauern. Ich musste mich um die Lebenden kümmern, die unter meinem Dach Zuflucht gefunden hatten… Mit diesem neuen Leben, das bei uns Einzug gehalten hatte, verschaffte sich Anfang April auch der Kinderwunsch langsam wieder Gehör. Und eines abends saß ich, müde vom Tag, im Bett und scrollte durch mein Kinderwunsch-Facebook während ich darauf wartete, dass Aron aus dem Büro runter kam, als ich in einer Gruppe für Kinderwunsch mit niedrigem AMH las, dass es inzwischen möglich war die Eierstockverjüngung mit PRP auch in Deutschland durchführen zu lassen. WHAT ?!? Ich war sofort hellwach. Sofort am nächsten Morgen rief ich in dieser Klinik an und bekam eine sehr nette Mitarbeiterin ans Telefon, die ich aufgeregt danach ausfragte. „Ja, das stimmt. Wir machen das – allerdings ist das Verfahren in Deutschland noch nicht ganz zugelassen, deswegen führen wir das momentan noch in unserer Niederlassung in Alicante durch. Ich geb Ihnen gerne die Kontaktdaten. Die werden Ihnen all ihre Fragen beantworten“, lächelte sie mich durchs Telefon an. Ich war sooo aufgeregt. Ich konnte es nicht fassen. Die Lösung unseres Problems war plötzlich zum Greifen nah. Ich wollte keine Sekunde Zeit verlieren und schrieb sofort eine E-Mail mit allen Informationen über unsere Situation an die Klinik in Spanien. Ich weiß nicht, ob ich es im Verlauf unserer Geschichte hier schon mal erwähnt habe, aber ich bin DIE UNGEDULD IN PERSON. Als ich also nach etwa dreißig Minuten noch keine Antwort von der Klinik erhalten hatte (rückblickend betrachtet hätte ich ihnen vielleicht ein klein wenig mehr Zeit geben können), beschloss ich nicht noch weitere Zeit zu vergeuden und rief in Spanien an. Zu meiner grenzenlosen Begeisterung antwortete eine zauberhaft freundliche junge Frau, die perfekt Deutsch sprach, und die ich später noch sehr ins Herz schließen sollte... Ich schilderte ihr unsere Situation und sie erklärte mir alles, was ich in diesem ersten Moment wissen musste: dass meine Hormonwerte mich sehr wahrscheinlich für das Verfahren qualifizierten, mit welchen Kosten wir zu rechnen hatten und, dass natürlich zu allererst ein Beratungsgespräch mit einem der Ärzte stattfinden musste. Sie bot mir einen Termin am nächsten Tag an, weil durch eine Absage gerade ein Slot frei geworden war und ich bestätigte ihn überschwänglich, denn sonst hätten wir etwa sechs Wochen warten müssen, bis wieder ein Termin frei war. Das Beratungsgespräch konnte per Video Call stattfinden und es sollte DER Turning Point für uns werden. Der Arzt wirkte auf eine Art und Weise offen, vollumfänglich informiert bezüglich der Möglichkeiten mit niedrigen AMH Werten, verständnisvoll und derart kompetent auf seinem Gebiet, dass es uns schier sprachlos machte. Mit solchem Weitblick und solcher Kompetenz waren wir in unserer bisherigen Klinik nicht konfrontiert worden und es war als hätten wir die ganze Zeit in einem zu engen Korsett gesteckt, das uns die Luft zum Atmen genommen hatte und dessen Schnüre gerade durchgeschnitten wurden… Ich erzählte dem Arzt von meinen Hitzewallungen, der Hormonersatztherapie, von den Stimulationsversuchen mit 75 Einheiten Gonal F und, dass ich immer das Gefühl gehabt hatte, dass diese Dosis zu niedrig für mich war… und von den ständig abgebrochenen Zyklen. Ich erzählte ihm von meinen Nahrungsergänzungsmitteln, den Vitaminen, dem Ubiquinol und, dass unsere alte Klinik gesagt hatte, dass ich all das nicht einnehmen sollte, weil es ohnehin nichts bringen würde. Ich erzählte ihm auch, dass ich die Ärzte gebeten hatte, mir DHEA zu verschreiben und, dass sie sich geweigert hatten, mit dem Argument, dass ich es nicht bräuchte. Zu Guter Letzt erwähnte ich die letzten sechs Monate, in denen ich die Anti Babypille hatte nehmen sollen und das war der Moment, in dem er seine Contenance endgültig verlor. „NEIN! Um Gottes Willen, nein. Nicht sowas machen! Für was?!? Damit man da die Laborwerte therapiert?! Nein!!!“ platze es nochmal aus ihm heraus. „Ich bin kein Fan von sowas. Wenn wir etwas machen, dann versuchen wir es richtig oder wir lassen es sein. Mit Pillen therapiert man, wie gesagt, im Prinzip nur die Laborwerte. Das zielt auf den FSH Wert ab.“ Bei Aron hatte es „Klick“ gemacht. Endlich. Ich konnte es in seinen Augen sehen. JETZT war er endlich mit voller Seele und ganzem Herzen dabei. Und ich hatte nichts gesagt. Ich hätte es, so sehr ich gewollt hätte, nicht erzwingen können. Es kam von ihm selber. Und von ganz alleine. Plötzlich war es einfach so. Wir sahen, erst uns und dann den Doktor, ziemlich überrascht an. „Uns wurde gesagt, das würde helfen und danach funktioniert es dann ganz häufig sehr schnell mit dem schwanger werden…“. Ich war jetzt doch sehr irritiert. „Mich interessiert nicht der FSH. Mich interessiert nur, wenn ich einen Schall mache, ob ich einen Follikel sehe oder nicht. Nehmen Sie bitte, um Gottes Willen, jetzt nicht für ein Jahr die Pille oder so. Das ist nichts anderes als Kosmetik der Daten. Ob Ihr FSH bei 30 oder 50 oder 70 liegt ist egal. Wenn da Eizellen sind, ist das alles was zählt.“ „Ja…naja, Antralfollikel hatte ich. Immer so ein bis zwei“, erklärte ich, gespannt, was jetzt seine Reaktion sein würde. „Gut, dann sollte auch stimuliert werden. Aber nicht mit 75, sondern mit einer höheren Stimulation, damit man sieht, ob da ein Ansprechen ist oder nicht.“ Er wirkte sehr entschlossen und absolut sicher in dem, was er uns sagte. „Da unsere Chancen aber trotz allem nicht sonderlich gut sind, müssen wir versuchen das Beste rauszuholen, was möglich ist. Deswegen würde ich Ihnen jetzt noch für sechs bis acht Wochen DHEA geben.“ Jetzt begann mein Puls sich langsam zu beschleunigen… “Ich hatte doch meine Klinik nach DHEA gefragt und die haben gesagt, das bräuchte ich nicht.“ „Vergessen Sie, was sie gehört haben! Ich sag Ihnen, was die Behandlung sein wird.“ Inzwischen kochte mein Blut. Uns wurde immer bewusster, was bisher alles falsch gelaufen war und wir waren beide fassungslos über all das was in unserer alten Klinik passiert war. Dieser neue Arzt wirkte wie der Messias auf uns. Er hatte unsere volle Aufmerksamkeit. „DHEA und Coenzym Q10“, wies er mich in aller Ruhe an. „ CoQ10 nehm ich schon; 300 mg am Tag als Ubiquinol“, ließ ich ihn stolz wissen. „Sehr gut“, lobte er mich. „Das behalten Sie bei. Zusammen mit dem DHEA für sechs bis acht Wochen einnehmen.“ Dann erklärte er mir, dass die PRP Behandlung in meinem Fall Sinn machen würde, weil ich noch jung war. Wäre ich Mitte Vierzig, sagte er, würde er mir davon abraten, aber da ich Mitte Dreißig war, wäre es auf jeden Fall einen Versuch wert. Die Kombination aus CoQ10, DHEA und PRP sei die beste Option und damit würden wir alles versuchen, was geht und was die Wissenschaft momentan hergibt. „Sie müssen sich klar machen, dass die Erfolgschancen trotzdem niedrig sind, aber wenigstens haben wir es dann ordentlich versucht und nicht wischi-waschi. Es kann klappen. Es gibt nur keine Garantie.“ Das klang logisch und realistisch. Und wir wollten es auf jeden Fall versuchen, zumal ich ja noch von damals die Studien dazu im Kopf hatte. „Ich würde die PRP dann gerne im Setting einer Stimulation machen. Aber nicht mit 50 oder 75 Einheiten! Ich würde Ihnen 300 geben! Damit ich dann sehe, wie die Eierstöcke reagieren und damit ich sie ein bisschen größer kriege“, erklärte er uns. „Wenn da Eizellen sind, werden sie darauf ansprechen! Die entnehmen wir dann und während wir sie entnehmen, applizieren wir gleichzeitig auch das PRP und lassen es dann erst mal wirken“, sagte er seelenruhig. „Wenn da keine Eizelle ist, die auf die Stimulation anspricht, applizieren wir nur das PRP. Die Sache ist die: ich muss, als Ihr Arzt, Ihren Wunsch respektieren. Und wenn es Ihr Wunsch ist, es zu versuchen, dann müssen wir das Beste daraus machen und selbst die kleinste Erfolgschance nutzen. Wir müssen ALLES versuchen, was geht. Nicht: Das nützt nichts; Das hilft Ihnen nicht; Da sehen wir keinen Sinn drin. Dann können wir es auch ganz lassen! Entweder machen wir es richtig oder gar nicht“, er war so sachlich und souverän, dass seine Aussagen keinen Zweifel zuließen. Das klang alles sooo sinnvoll und auf einmal öffneten sich völlig neue Möglichkeiten für uns – zumal er uns sagte, dass die Kosten für diese Behandlung schon lange nicht mehr so hoch waren, wie ich es damals, vor zwei Jahren, recherchiert hatte. Die Kosten für die PRP lagen, so wie er es plante (im Setting einer Stimulation) bei 800 Euro zuzüglich Stimulation und Eizellpunktion. Die Klinik in Spanien hatte pauschale Pakete, die man buchen konnte, sodass sich die Kosten in einem machbaren Rahmen bewegten. Nachdem wir das Gespräch beendet hatten, saßen Aron und ich eine kurze Weile sprachlos da und starrten uns gegenseitig an…Wir mussten all das erst mal sacken lassen. Es war möglich. Dass wir ein eigenes Baby haben konnten war auf einmal tatsächlich möglich. Und die gnadenlose Endgültigkeit mit der uns in der alten Klinik attestiert worden war, dass es unmöglich sein würde mich jemals schwanger zu bekommen, war plötzlich nur noch die kurzsichtige Einschätzung nicht vollumfänglich informierter, deutscher Ärzte, die weder bereit noch in der Lage waren über den Tellerrand zu blicken. Aron und ich tauschten einen entschlossenen Blick aus: wir würden diese Behandlung durchführen lassen. Koste es, was es wolle.